Nerdiness

Oder: Verkannte Kernkompetenzen

Ein Coachee in meinem Rhetorik-Training sagte während der Videoanalyse mehrfach: „Also da muss ich weniger nerdig rüber kommen!“ Wir bereiteten ein wichtiges Gespräch vor und sein Selbsturteil klang streng und absolut, ebenso wie die daran hängende Selbsterwartung. 

Sofort sprang mein innerer Verteidigungsimpuls gegenüber dieser „Eigenschaft“ an; ich ging einen Schritt zurück, zur genaueren Betrachtung der betreffenden Stellen. Schnell stellten wir dann fest, dass er eigentlich mit der inhaltlichen Ebene unzufrieden war. Er hatte in diesen Momenten vorschnell geantwortet, inhaltlich und sprachlich flach, eine Konserve abgeliefert, anstatt wirklich über die Frage nachzudenken. Anstatt einen Moment innezuhalten und eine wache wie frische Antwort abzuliefern, zu einem Thema, dass das Zuhause seiner Kompetenzen ist. Darüber ärgerte er sich. Was er an der Form festmachte. Die Ebene, die zuerst ins Auge sticht, wenn etwas Inhaltliches unstimmig wirkt. Und immer da lohnt es sich, genauer hinzuschauen und die Ebene zu differenzieren: Inhalt, Form und Persönlichkeit.

Er ist in seinem Urteil „persönlich“ geworden und hat seine Art kritisiert, in der Annahme, dass dieser Teil nicht gut ankommt und dass er als Experte einer „perfekten“ Form entsprechen müsse, um ernst genommen zu werden. Meine These ist, dass seine Art vollkommen tragfähig für diesen Anlass wäre, wenn er wirklich aus dem Bauch heraus sein Wissen und seine Meinung vertritt. Und genau da würde ich ansetzen. An der Basis, der inneren Haltung und eigenen Gelassenheit. Zu Gunsten der Qualität von Antworten. 

Ich sehe die Haltung – ebenso wie das Bewusstsein darüber – als oft unterschätze Ressource. Ist diese klar und stabil, wird es auch sofort leichter, an Form und Rhetorik zu arbeiten. Diese innere Klarheit förder ich gerne. Und da das Wort Authentizität gerade sehr überbeansprucht wirkt, möchte ich es Echtheit nennen. Die auch durch Rolle und Rahmen hindurch, und trotz beruflicher Funktionen, ihre Wirkung entfaltet.

Ich fragte ihn, was in seinen Augen negativ daran sei, nerdig zu sein. Oder so wahrgenommen zu werden. Auch im Kontext des bevorstehenden Gespräches. Und da wurde es nochmal sehr interessant und das Training kam auf eine tiefere Ebene.

In mir gesellte sich meine frühe Nerdigkeit neugierig an den Tisch. Ich höre schon mein lebenlang, dass ich irgendwie sehr eigen und, ja, merkwürdig sei. Ich betrachte das wertfrei. Aber, was ermöglicht mir meine nerdige Seite? Zum Beispiel, mich in absurder Tiefe in Themen zu versenken, Muster und Strukturen zu erkennen. Blockaden und Sollbruchstellen auszumachen, um daraus Thesen, Zusammenhänge und Lösungen abzuleiten. Diese wache Wissenschaftlerin des Lebens stürzt sich mit Begeisterung und großem Interesse in berufliche wie persönliche Themen. Um auch da wieder Parallelen, Zusammenhänge und Muster abzuleiten. Yay!

Am Abend musste ich an ein Kinderbild von mir denken, dass ich zufällig vor kurzem wiedergefunden habe. Es ist ein Symbol für meine frühe „Nerdigkeit“. Die Auffälligkeit der äußert praktischen Kopfbedeckung, die ich auf dem Bild trage, wurde mir erst bewusst, als ich damit unter Menschen geriet. Die erhöhte Aufmerksamkeit war mir direkt unangenehm und für meine Kopfbedeckung gab es insofern nur zwei gangbare Optionen: a) blitzartig absetzen, oder b) mit Würde tragen. 

Meine Entscheidung war verbunden mit der eindrücklichen Erfahrung, der Tragfähigkeit innerer Haltung.

Welche wesentliche Eigenschaft, die dich als Kind ausgemacht hat, erkennst Du heute noch in Dir? Was ermöglicht sie Dir?